Die Cidade de Deus ist ein riesengrosser Komplex. So, wie im gleichnamigen Film anfangs zu sehen, ist sie entgegen dem Klischee einer klassischen Rio-Favela flach. Ist nicht, wie die Rocinha, an einen Hügel geklatscht. War auch sowieso zunächst keine illegale Siedlung, sondern im Gegenteil eine vom Staat geplante. Man wollte die aus dem Nordosten zugewanderten „Neger“ aus der Stadt siedeln. Mittlerweile hat Rio de Janeiro aber auch die Stadt des Gottes überwachsen, der Slum liegt nun zwar nicht mittendrin, ist aber sozusagen dabei.
Die wenigsten Szenen des Meisterwerks "City of God" wurden in der CDD gedreht. Das lag an damaligen Bandenkriegen. Aber auch daran, dass der Grossteil der ursprünglichen Siedlung in der Zwischenzeit plattgewalzt wurde.
Tagsüber mit dem Auto dorthin zu fahren, birgt kaum Probleme. Wer zur Autobahn Ayrton Senna in Richtung Norden und ins Zentrum will, durchstösst automatisch zwei Teile links und rechts. Sie werden mittels Fussgängerbrücken miteinander verbunden. Fährt man vorher ab, stösst man auf die ursprüngliche Ausfallstrasse, die wiederum Teile des Areals trennt. Irgendwo ist auch ein McDonald´s. Alles kein Problem. Nur, Carla sagt alsbald rechts, meint aber halbrechts, schon stehe ich mit meiner Karre mitten in der Favela, kann aber wegen dem Verkehr und aus Platzgründen nicht wenden. Schöne Scheisse, denn auch ihr geht jetzt die Klammer. Ich muss ein Stückchen weiter rein. Mist. Die erste Ecke führt in eine Sackgasse. Also noch ein Stück weiter. Wir haben die Fenster allesamt nach unten gedreht, damit man erkennen kann, das wir keine Bullen oder feindliche Drogenkrieger sind. Vor einem Überfall an sich fürchte ich mich nicht. Geglotzt wird natürlich trotzdem blöd und manchmal grimmig. Ich finde endlich den Weg, war eigentlich auch keine grosse Sache. An der Ecke zur Hauptstrasse gibt es sogar eine Ampel. Normalerweise würde ich bei Rot rüber, aber in dem Moment überquert eine junge Morena mit Koffern bepackt die Strasse. Hinten dran die Mama oder Tante. Ein absoluter Hingucker! Also, die hunge Morena. Mein Mund ist offen. Carla kennt meinen Geschmack. Sie reagiert nicht im geringsten eifersüchtig, sondern nickt bestätigend: "E uma Gostosa, né!", frei übersetzt und in diesem Kontext: "Was für ein geiles Stück, gell!" Carla erhält wieder einen Pluspunkt.
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Beschwingt setze ich mich an den Computer. Heute gehen wir zum Baile! Hauptmagnet für mich sind dabei natürlich Mädchen. Carla wird´s schon richten.
Bei mir müsste man den Text zwar umschreiben ...
Heute bin ich Solo und ich gehe zum Tanz (Hurra)
Heute bin ich Solo und niemand hält mich auf (Hurra)
Ich geh heute tanzen und suche mir einen Schwanz (meinen grossen Neger)
Heute gehe ich zum Tanz mit ultrakurzem Rock (= de sainha)
Und so weiter und so fort ...
PS: Das Video zeigt KEINEN Baile-Funk im eigentlichen Sinne!
Heute gehen wir zum Baile!
Aber irgendwie ... irgendwie beschleicht mich aus so ein seltsames Bauchgefühl. Was ist, wenn sie mich heute Nacht versetzt? Normalerweise heisst es ja, wie auch Ihr mittlerweile wisst, kaum hat sie das Geld in der Hand, fällt ganz schnell das Höschen. Bei uns soll es lediglich noch eine Weile liegen bleiben. Wenn sie es aber nun hochgezogen hat, kann ich nichts dagegen unternehmen. Mist.
Tatsächlich. Carla lässt mich warten. Eine Stunde Verspätung ist nicht normal, bei ihr schon gar nicht. Ich gewähre ihr trotzdem noch eine zusätzliche halbe Stunde. Dann rufe ich sie an. Super! Ich brech zusammen. Die automatische Ansage vermeldet "desligado", also aus.
Würde man eine detaillierte Rechnung erstellen, wären die 200 Reais bereits von Carla abgeleistet. Aber es bestand kein Deal. Logisch, dass ich das Geld auch als Zukunftsinvestition angesehen hatte. Es ist aber nicht allein die Kohle. Solo kann ich nicht in die CDD, in die Gottesstadt. Das halte ich für zu gefährlich. Rocinha, okay, Mangueira auch, aber in die CDD. Nein. Ich war Jahre zuvor schon zweimal drin, konnte mir ein ausgiebiges Bild machen, inklusive nachts, aber beziehungsweise deshalb: Alleine? Never! Soll mir nach dem Reinfall mit Marcela exakt vor zwei Wochen wieder eine Baile-Funk verwehrt bleiben? Scheisse.
Ich betreibe Telefonterror, wobei ich eigentlich nur meinen eigenen Apparat durch ständige Anrufversuche quäle. Endlich, irgendwann gibt es das ersehnte Freizeichen. Aber es klingelt durch. Mein gegenwärtiger Zustand ist eine Mischung aus Wutanfall und Verzeiflung.
Gerade stehe ich vor der Entscheidung, mich auf den Besuch der Copa einzustellen oder mich zuzusaufen. Da klingelt mein Telefon. Ein Hoffnungsschimmer, aber der Zweck des Anrufes könnte auch eine Absage sein. Ich wähle zurück, so ist das bei den Mädchen immer. Aber nicht den Apparat von Carla, sondern den von Kelly. Hm?
Die Mädchen tanzen in der CDD, die Jungs sitzen in der Rocinha. Passt zum
Kontext. Orignal-Ausschnitt aus der ARTE-Doku von Seite 2 oder so.
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Kelly lädt mich zum Churrasco, zum Grillen ein. Böse Zungen würden behaupten, sie braucht jemanden der Dope und Bier bezahlt. Ich entgegne, dass ich Carla nicht erreichen könne. Kelly meint, die würde sich schon noch bei mir melden. Es ist zwar bereits stockdunkel, aber noch deutlich vor 21 Uhr. Vor 22 Uhr macht der Favelabesuch keinen Sinn, der Baile beginnt zwar theoretisch um Mitternacht, aber praktisch erst um 2 oder 3 Uhr in der Nacht. Also bleibt noch Zeit. Sie wolle mich lediglich an den Regenschirm erinnern. Meine Hoffnungsaktien steigen. Aber Carla meldet sich nicht. Und ihr Apparat ist mittlerweile wieder aus. Es ist ein Auf und Ab, die Hoffnungsaktien sinken.
Die automatische Ansage verkündet in Wahrheit zusätzlich "em fora", draussen, ausserhalb des Empfangsgebietes. Sie lebt irgendwo im Wald, vielleicht liegt das Problem auch an der Leitung. Nur, das nützt mir nichts.
Endlich, endlich erreiche ich sie. Die Verbindung ist schlecht und ich verstehe sie kaum. In einer Fremdsprache unter diesen Rahmenbedingungen zu telefonieren, fällt zudem schwer. Sie hätte kein Geld für den Omnibus. Wie? Sie hatte 200 Reais von mir bekommen. Und keine 2 Reais und 30 Centavos mehr übrig? Nachzuhaken lohnt sich nicht. Entweder sagt sie die Wahrheit oder sie lügt. Aber egal. So oder so. Das Endergebnis ist das gleiche. Diskussion überflüssig.
"Leih Dir das Fahrgeld eben bei Mami oder einer Nachbarin!"
"Ah, ja, das könnte ich tun ..."
"Kommst Du jetzt (gefälligst)?"
"Ja, ja, okay, ich fahre jetzt gleich los ..."
"Gib Gas, Du Miststück!"
Eine Viertelstunde später rufe ich nochmal an. Ich bin normalerweise kein Telefonterrortyp. Aber in diesem Fall ...
"Und?", raunze ich in den Hörer.
"Ja, ich habe das Geld bei meiner Nachbarin geliehen und warte auf den Omnibus.", antwortet sie zaghaft.
"Wirklich?"
"Ja, der Bus will nicht kommen, ich warte schon eine ganze Weile ..."
Ich bin beruhigt, glaube ihre Angaben. Mehr oder weniger. Ich will es ja auch glauben.
"Okay, bis gleich, Küsschen."
"Ja, tchau, SG, ich liebe Dich, Küsschen."
Sie liebt mich, hat sie gesagt? Echt, so ein Miststück!