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«Es ist ein Konflikt zwischen Arm und Reich»
Von Rudolf Burger. Aktualisiert am 25.05.2010
Sven Trakulhun. (Marita Fuchs, Universität Zürich)
Herr Trakulhun, Sie befassen sich seit langem mit Thailand. Hat Sie die Entwicklung diese Woche überrascht?
In den vergangenen acht Wochen war eine Verhärtung der Fronten absehbar. Es war also sicherlich nicht unwahrscheinlich, dass es zu gewalttätigen Eruptionen kommen würde.
Jetzt könnte man sagen: Das Militär hat zu hart eingegriffen oder umgekehrt: Es hat acht Wochen lang, viel zu lange, zugewartet.
Ich bin kein Freund des Militärs, finde aber, dass es sehr spät und zurückhaltend reagiert hat, gemessen am Ausmass der Rebellion. Natürlich ist jeder Tote ein Toter zu viel, aber stellen Sie sich vor, die Berner Innenstadt oder die Zürcher Bahnhofstrasse würden ganze acht Wochen lang von Oppositionellen abgeriegelt. Was würde dann passieren? In Bangkok hatte die Regierung anfänglich offensichtlich nur halbherzigen Rückhalt beim Militär. Jetzt hat das Militär eingegriffen, weil klar wurde, dass es so nicht weitergehen konnte.
Heisst das: Mit früherem Eingreifen hätte man einiges vermeiden können?
Die Situation war für die gegenwärtige Regierung schwierig. Sie ist 2008 durch einen Koalitionswechsel zustande gekommen, was in Demokratien an sich nichts Ungewöhnliches ist. Doch der jetzige Ministerpräsident, Abhisit Vejjajiva, der so ins Amt kam, ist nicht der Kandidat der Bevölkerungsmehrheit – so sehen es jedenfalls die Rothemden. Dies ist der unmittelbare Hintergrund ihrer wiederholten Forderung nach Neuwahlen. Daraufhin bot Abhisit Neuwahlen für November an, was die Oppositionellen aber ablehnten. Es war also schwierig, abzuschätzen, welche politische Linie die Rothemden verfolgen, es war unklar, ob sie tatsächlich Interesse an Verhandlungen hatten oder eben nicht.
Ist den Anführern der Rothemden die Sache entglitten? Sie hatten ja eigentlich dazu aufgerufen, den Protest zu beenden.
Einige von ihnen haben das getan, aber die Front der Rothemden war nicht einheitlich. Es waren sicherlich Kräfte am Werk, die Thaksin unterstützen, den früheren, 2006 gestürzten Premierminister. Daneben gab es aber auch einige anderen oppositionellen Strömungen.
War der Putsch gegen Thaksin, der der Korruption bezichtigt wurde, die Ursache aller Probleme seither?
Thaksin hat ein Doppelgesicht. Zum einen hatte er grosse Teile der Bevölkerung hinter sich, insbesondere in den ländlichen Gebieten im Nordosten Thailands, dem sogenannten Isaan, einem bevölkerungsreichen und relativ armen Gebiet. Er selbst kommt aus Chieng Mai im Norden. Thaksin hat politisch sicherlich viel für seine Leute getan, er hat eine allgemeine Krankenversicherung eingeführt, er hat in dörfliche Infrastrukturen investiert, er hat also praktische Entwicklungshilfe geleistet, die den ärmeren Bevölkerungsschichten in den Peripherien zugutegekommen ist.
Und das andere Gesicht Thaksins?
Er war korrupt, als Premierminister und als Geschäftsmann. Er hat innert kürzester Zeit Milliarden angehäuft, er hat mit Telekommunikation und Medien ein Konglomerat geschaffen und damit die öffentliche Meinung weitgehend beherrscht. Den Mobilfunk in Thailand hat er mit Schmiergeldzahlungen quasi monopolisiert, dann nach Singapur verkauft und die Steuern, die auf diesen Milliardendeal angefallen wären, hinterzogen.
Weiss man, ob Thaksin die Proteste mitfinanziert hat?
Wirklich beweisen kann man das nicht, aber alles andere wäre unwahrscheinlich. Die Rothemden waren ausgesprochen gut ausgestattet, sie konnten sich, obwohl ihnen Wasser, Strom und zum Teil auch Internetverbindungen gekappt wurden, erstaunlich lange in der Innenstadt halten. Und am Anfang der Aufstände war Thaksin immer wieder per Internet zugeschaltet und hielt Ansprachen. Es wäre auch angesichts seines Vermögens und seiner vitalen Interessen an dieser Opposition unwahrscheinlich, wenn er die Opposition nicht mit­finanziert hätte.
Dann war es ein gut organisierter und kein spontaner Protest?
Nein. Man sagt, es seien gekaufte Aktivisten gewesen und es seien sogar Provokateure eingeschleust worden, um den Aufstand weiter anzuheizen. Das Ganze folgte der Dramaturgie der Revolution: Es gibt Gerüchte, aber Genaues weiss man nicht, plötzlich bricht Gewalt aus, die Ereignisse überstürzen sich, werden unübersichtlich und schnell. Die Aufständischen, so viel weiss man, kamen anfangs aus dem Nordosten, wurden in Busse gesteckt und in die Hauptstadt gefahren. Das liegt daran, dass Thaksin in der Hauptstadt selber keinen grossen Rückhalt geniesst.
Der Putsch gegen Thaksin im Jahr 2006 war der Ausgangspunkt der heutigen Konflikte. Hätte gegen ihn nicht geputscht werden dürfen?
Na ja, er war ein Premierminister, der das Land wie ein Unternehmen führen wollte, der autoritäre Strukturen im Lande schuf, der die ohnehin schwachen demokratischen Strukturen zu seinen Gunsten veränderte. Hier drängt sich der Vergleich mit Berlusconi in Italien auf, ein Vergleich, der zumindest ein Stück weit trägt. Beide haben mithilfe ihrer Medienmacht die öffentliche Meinung bewusst manipuliert und Gesetze zu ihren Gunsten abändern lassen. Thaksin war legitim gewählt, insofern hätte man ihn aus demokratischer Sicht nicht stürzen dürfen. Sein Problem war, dass er, der Mann aus dem Norden, keine Verbindung zu den eigentlichen Eliten Thailands hatte.
Thaksin, der Milliardär, spielte die Rolle eines Herolds der Armen. Geht es also in Thailand um einen klassischen Klassenkonflikt, der arme Norden gegen den reichen städtischen Süden?
Ja, es ist ein Konflikt Arm gegen Reich, ein Konflikt zwischen Zentrum und Peripherie, der Norden gegen Bangkok. Es ist ein Klassenkonflikt, letztlich das Ergebnis der Bildung des thailändischen Nationalstaats, der sehr zentralistisch organisiert ist.
Über Thailand hat man vorher immer lesen können, dass der König eine über allem stehende Autorität sei. Jetzt, während der Unruhen, hat man von ihm nichts gehört.
Man sagt, er sei krank und liege im Spital. Weiter heisst es, er werde von den Höflingen abgeschirmt. Doch das sind Spekulationen, die natürlich sehr gut in eine aufgeheizte Stimmung wie dieser passen. Jedenfalls hat König Bhumibol Ende April in einer öffentlichen Rede zur Einhaltung der Gesetze aufgerufen, dabei aber für keine Seite Partei ergriffen.
Aber wäre der König die Autorität, um die beiden Parteien zu versöhnen?
Wenn es jemanden gibt, der das tun könnte, dann König Bhumibol. Er geniesst über die Lager hinweg Ansehen.
Dann ist es fatal, dass er schweigt.
Es mag sein, dass er schweigt, weil er gesund­heitlich angeschlagen ist. Er ist 82 Jahre alt und regiert schon seit über 60 Jahren, das darf man nicht vergessen. Vielleicht ist es auch klug von ihm, zu schweigen, denn die thailändische Verfassung verleiht ihm eigentlich keine politische Macht. Es wäre sicherlich besser, die streitenden Lager würden von selbst zu demokratischen Formen der Auseinandersetzung zurückfinden, auch ohne eine Intervention des Königs. Man darf aber annehmen, dass am Hof bereits über eine Thronfolge nachgedacht wird, doch das geschieht nicht öffentlich.
Offenbar könnte es dabei zu einer Krise kommen, weil Bhumibols einziger Sohn als Frauenheld gesehen wird, der die Königswürde nicht verdient.
Richtig, Kronprinz Vajiralongkorn hat wenig Rückhalt in der Bevölkerung. Aber er geniesse, so sagt man, die Unterstützung des Militärs, weil er eine militärische Laufbahn durchschritten hat. Das würde ihn natürlich sehr mächtig machen.
Dann ist also das Militär die entscheidende Macht im Lande.
Wenn man sich die Geschichte Thailands seit 1930 anschaut und die 18 Putsche, die es seither gegeben hat, ist die Macht des Militärs sicher eine entscheidende Konstante.
Aber weiss das Militär, was es will?
Interessanterweise brechen auch da die Lager auf. Man hat bisher angenommen, das Militär sei fest mit dem Königshaus und den städtischen Eliten in Bangkok verbunden. Das ist jetzt offensichtlich nicht mehr so. Das erklärt das lange Zögern des Militärs, in die Unruhen einzugreifen, und passt auch ins Bild. Denn der politische Einfluss des Militärs in Thailand scheint seit den 1970er-Jahren eher schwächer zu werden.
Dass es beim Militär unterschiedliche Positionen gab, konnte man auch daran ablesen, dass einer der Anführer der Rothemden ein General war – der umgebracht wurde.
General Khattiya Sawasdipol, genannt Sae deng, wurde mitten in einem Interview mit einem ausländischen Journalisten von einem Scharfschützen erschossen. Er war aber der Einzige, der so offen und militant gegen die gegenwärtige Regierung aufbegehrt hat. Es gibt sicherlich auch andere Generäle, die früher auf der Seite Thaksins standen. Aber beim Protest der Gelbhemden, die 2008 den Flughafen blockierten, reagierte das Militär zurückhaltend.
Die Gelbhemden waren gewissermassen die Stosstruppe der städtischen Eliten?
Ja, das waren brave Demonstranten, zumindest waren ihre Proteste gewaltlos. Der Flughafen wurde zwar blockiert, aber hinterher wurde aufgeräumt. Das war natürlich auch eine Art Selbstpropaganda: Wir sind Buddhisten, wir sind friedlich, wir sind Demokraten. Allerdings waren auch die Gelbhemden für einen gewaltsamen Konflikt gerüstet, sie waren bewaffnet. Man löste das Problem dann auf «thailändische Art»: Der Thaksin-freundliche Premier Somchai Wongsawat trat im Dezember 2008 unter einem Vorwand zurück, und die Regierung wechselte. So hatte jede Seite ihr Gesicht gewahrt.
Wie gross ist der wirtschaftliche Schaden, den der gegenwärtige Protest der Rothemden bewirkt, vor allem durch die Ausfälle im Tourismus?
Dramatisch. Im Moment ist zwar der Süden Thailands vom Konflikt nicht betroffen. Aber es besteht natürlich eine theoretische Gefahr, dass der Flächenbrand, der im Zentralteil und im Nordosten zeitweise ausgebrochen war, auch auf den Süden übergreifen könnte. Allerdings ist eine Koalition der Rothemden etwa mit islamistischen Gruppen im Süden höchst unwahrscheinlich. Zwar teilen sie eine Abneigung gegen die Bangkoker Zentralregierung, doch die Methoden und Ziele der Islamisten sind mit jenen der Buddhisten unvereinbar. Hinzu kommt, dass Thaksin, der Ex-Premier, seinerzeit rigoros gegen die Islamisten im Süden vorgegangen ist.
Besteht die Gefahr einer Ausweitung des Konflikts, sogar eines Bürgerkriegs?
Das kann man zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht mit Sicherheit sagen. Die Ruhe seit zwei Tagen kann trügerisch sein. In Bangkok und in über 20 Provinzen sind Ausgangssperren verhängt worden. Das ist der Versuch, Aufstände auch in den Bangkok-fernen Regionen im Nordosten möglichst von vornherein zu verhindern. Denn auch dort gab es bereits Rathausbesetzungen und Ähnliches. Wie es weitergeht, wird zentral ­davon abhängen, was in den nächsten Tagen in Bangkok geschieht.
Ist auch wichtig, wie sich Thaksin verhalten wird?
Thaksin hat angedeutet, dass ein niedergeschlagener Aufstand zu einem Guerillakrieg führen könnte. Vielleicht war das eine Drohung. Aber andererseits soll er sich auch ausdrücklich von Gewalttaten distanziert haben, die in seinem Namen begangen worden waren. Es ist eben kompliziert.
Die Regierung hat heute Wahlen in Aussicht gestellt, ohne ein Datum zu nennen. Wie wahrscheinlich ist es, dass in näherer Zukunft Wahlen tatsächlich auch durchgeführt werden?
Das ist schwierig vorherzusagen. Rechtlich stehen Wahlen erst für 2011 an. Die Frage ist, ob Abhisit auch früher dazu bereit sein wird. Die jüngsten Ereignisse fordern nicht gerade dazu auf. Das Land muss dann ruhig sein, unter den gegenwärtigen Bedingungen ist das nicht möglich. Man wird aber der Legitimitätskrise der Demokratie in Thailand nur durch freie Wahlen Herr werden können.
Zeigt der Fall Thailand also einmal mehr, dass Demokratie nicht für alle Länder das richtige System ist?
Das ist eine schwierige Frage. Demokratie ist eine Regierungsform, die ihren Ursprung in Europa hat und von dort in Teile der übrigen Welt exportiert wurde. Eine solche Regierungsform samt den politischen Ideen und Theorien, die dahinter stehen, lässt sich niemals 1:1 in ande­ren Kulturen umsetzen, es wird immer Angleichungen, Transferverluste geben. Demokratie entwickelt sich auch nicht von heute auf morgen, sie muss erkämpft werden, das war auch in Europa nicht anders. Thailand führt diesen Kampf zurzeit, muss ihn auch führen.
Ist Thailand zur Demokratie einfach noch nicht fähig?
Es fehlt vielleicht mancherorts an der Bereitschaft zur Demokratie. Manche finden die damit verbundenen Aushandlungsprozesse ermüdend, wünschen sich das «Durchregieren». Das ist in vielen Ländern so. Die Demokratie hat nicht überall einen guten Ruf. Sie droht in eine Legitimitätskrise zu geraten. Dazu beigetragen haben weltpolitische Entwicklungen wie etwa der sogenannte Kampf gegen den Terror. Im Namen der Demokratie ist viel politisches Unheil angerichtet worden.
Sicher scheint aber auf jeden Fall, dass Länder in Asien, die diktatorisch regiert werden, etwa Vietnam, sich nach den Ereignissen in Thailand kaum veranlasst sehen, ihr Land zu demokratisieren.
Ich möchte nicht sagen, Thailand oder die Länder Asiens seien zur Demokratie unfähig. Sie müssen zu Formen demokratischer Selbstbestimmung finden, die im Einklang mit ihren kulturellen Traditionen stehen. Wie gesagt: Die Annahme, man könne europäische Demokratieformen bruchlos exportieren, ist falsch. Doch ich bin sicher, dass friedliche Formen der politischen Auseinandersetzung in jeder Kultur mehrheitlich geschätzt werden.
Auf «Spiegel online» war zu lesen, es sei schwierig, in diesem Konflikt in Thailand zu urteilen, wer «die Guten» und wer «die Bösen» seien.
Das ist richtig. Jedenfalls laufen die Rothemden ganz offensichtlich einem falschen Vorbild hinterher, ihr Anführer, Thaksin, ist ein korrupter Milliardär.
Wäre er ein lupenreiner Revolutionär...
...würde das unseren eigenen romantischen Gefühlen entgegenkommen, aber mit Thaksin diskreditiert sich die Opposition selber, auch damit, dass sie Häuser angezündet und Granaten abgeschossen hat. Das alles war alles andere als eine lupenreine demokratische Auseinandersetzung.
Und wieso sind die Gelbhemden nicht die Guten?
Sie repräsentieren die Bangkoker Eliten und Teile der hauptstädtischen Mittelschicht und sind auch keine lupenreinen Demokraten. Es kursieren unter ihnen Vorstellungen von einer Art Ständewahlrecht, die Stimmen des «ungebildeten Mobs», wie sie es nannten, würden so entwertet. Sie erklärten, diese Menschen könnten nicht lesen und schreiben, also sollten sie auch nicht wählen können. Auch das ist nicht besonders sympathisch. Thailand ist auch, was die Einkommensverteilung betrifft, ein sehr ungerechtes Land. Insofern gibt es auch natürliche Sympathien für die Opposition. Es ist in der Tat schwer, Gut und Böse auseinanderzuhalten.
Sind Sie optimistisch oder pessimistisch, was die nächste Zukunft anbelangt?
Im Moment sieht es friedlich aus, doch niemand kann verlässlich sagen, ob es so bleiben wird. Wenn man die Prozesse langfristig betrachtet, kann man trotz der Gewaltausbrüche doch einen Weg zur Demokratisierung sehen. Eine der Nebenfolgen von Thaksins Regentschaft war es, dass er den Menschen des Nordostens eine Stimme gegeben hat. Zuerst musste er sie allerdings kaufen, doch später wurde er auch so gewählt. Er selber hatte mit demokratischen Institutionen nicht viel im Sinn, aber die Leute haben gemerkt: Wenn wir zur Wahl gehen, können wir etwas ändern. Die Menschen des Nordostens, die vorher keine Stimme hatten, sind sich jetzt ihrer Stimme bewusst geworden. (Der Bund)