Ich möchte euch eine Geschichte erzählen.
Es ist keine spektakuläre, keine, die man in den Schlagzeilen der Zeitungen lesen würde. Es ist eine sehr persönliche Geschichte, die ich soeben am Küchentisch von meiner Frau erfuhr. Es ist die Geschichte der Beziehung zwischen meiner Frau und ihrem Vater, der 2013 vermutlich elendig an Darmkrebs oder einem Magengeschwür verstarb – ich konnte es aus der Diagnose nicht genau erkennen, zumal ich kein Mediziner bin.
Der Vater ging ins Krankenhaus. Der Arzt dort prognostizierte ihm, unbehandelt nur noch wenige Wochen leben zu können, behandelt eine 50-prozentige Überlebenschance zu haben und zumindest weitestgehend schmerzfrei zu werden. Der Vater hatte gewaltige Schmerzen, erbrach sich täglich in dieser Zeit und spuckte immer wieder Blut, so erzählte meine Frau. Der Vater lehnte es ab, behandelt zu werden, nachdem er erfuhr, dass die Operation vermutlich etwa 8000 Euro kosten würde – eine Summe, die er der Familie nicht als Schuldenberg hinterlassen wollte: „Ich habe lange genug gelebt“ (er war etwa 70 Jahre alt), „und habe kein Recht, euch zu belasten. Dann gehe ich halt.“
Meine Frau war damals eine sehr junge Frau von 25 Jahren. Ihr Vater hatte sie trotz seines geringen Bildungsstandes regelmäßig an politischen und gesellschaftlichen Diskussionen teilnehmen lassen, schon als Kind. Während solcher Gespräche, bei denen anfangs die ganze Familie anwesend war und am Küchentisch diskutiert wurde, stand die Mutter meistens irgendwann auf: „Ich habe noch etwas zu waschen, ihr entschuldigt mich.“ Die Schwester bemerkte: „Ich muss noch für die Schule lernen, bitte lasst euch nicht stören.“ Der Sohn verschwand mit der Erklärung, er müsse noch eine Arbeit erledigen, für die er bezahlt werde. So blieb nur meine Frau übrig – vielleicht 12 Jahre alt – und diskutierte mit ihrem Vater über die Frage, ob es gerecht sei, dass 95 Prozent der Bevölkerung keine Bildung bekämen, der Diktator Marcos das Land terrorisiere, die Minderheit, aus der meine Frau stammte, noch einmal wirtschaftlich zusätzlich benachteiligt sei (es ist der ärmste Bevölkerungsteil der Philippinen), und warum Gott all das zuließe.
Meine Frau stellte gerne immer wieder Fragen, neigte dabei den Kopf leicht zur Seite, die Augen weit geöffnet, und sog die Ansichten ihres Vaters über all diese Dinge in sich auf. Ausgiebige Vater-Tochter-Gespräche, bis sie wieder einmal ihren Vater für Jahre nach Saudi-Arabien „preisgeben“ musste, wo er sich gegen ein Handgeld versklavte und seiner kleinsten Lieblingstochter entzogen wurde. Meine Frau, damals ein kleines Mädchen, hütete die kleinen Geschenke ihres Vaters in einer kleinen Pappkiste wie einen Schatz und betrachtete sie oft: die Perlenkette aus Plastikperlen, die billige Armbanduhr, die nie getragen wurde, um sie zu schonen, das bunte Halstuch aus Riad mit muslimischen Mustern, das in der Sonne leuchtete, wenn man es ins Licht hielt.
Als meine Frau später selbst nach Saudi-Arabien ging, um sich für die Familie und deren Überleben zu versklaven, musste sie, als ihr Vater im Sterben lag, heimlich telefonieren, um ihn noch einmal zu sprechen. Ihr Anruf kam leider fünf Minuten, nachdem er in einem ärmlichen Bett verstarb – einen Moment zu spät. Tränen oder Trauer konnte sie in Saudi-Arabien nicht zeigen. Die Aufforderung zu arbeiten war dort unerbittlich, und bei Trödelei hätten Stockhiebe gedroht.
Diese Geschichte hat übrigens dann doch eine bekannte deutsche intellektuelle Zeitschrift dokumentiert, ebenso wie die Umstände, unter denen ich sie durch einen Zufall traf. Ich wurde auf sie aufmerksam, als ich während der Suche nach einer Investition im Energiebereich beruflich unterwegs war. Ich konnte sie aus dieser Situation befreien. Heute lebt meine Frau in Deutschland, hat alle Schulabschlüsse und eine Ausbildung zur Krankenschwester nachgeholt. Sie sparte wie besessen aus eigenem Geld, damit sie im Falle des Falles ihrer Mutter eine Operation bezahlen könnte und nicht auf meine Hilfe zurückgreifen müsste – obwohl sie das auch täte. Aber meine Frau ist eine sehr stolze Person, die Dinge lieber selbst erledigt, wenn es irgendwie möglich ist. Mit ihrem ersten verdienten Geld kaufte sie mir damals übrigens Schuhe. Ich werde das nie vergessen.
Ich erzähle euch diese Geschichte, weil es in Asien mehr gibt als Sonne, Strand und Meer, Partymeilen und billiges Bier. Es gibt solche interessanten kleinen Geschichten, die mich zum Nachdenken bringen. Ich denke bei solchen Geschichten darüber nach, was wohl gemeint ist, wenn man Deutschland als „gescheitert“ bezeichnet und meint, wir würden absehbar in absoluter Armut verkommen, alles sei schlecht, und Migranten seien ein riesiges Problem. Ich werte das gar nicht so gerne, denn jeder Mensch hat seine eigene Geschichte und dadurch seinen eigenen Blick. Es ist eher so, dass ich lauter Fragezeichen in meinem Kopf sehe und immer öfter nicht verstehe, was die klagenden Anwürfe bedeuten sollen, die ich immer lauter von deutschen Expats in Thailand wahrnehme.
Meine Frau ist übrigens sehr, sehr gerne in Thailand. Ihrem ursprünglichen Heimatland, den Philippinen, verzeiht sie den Tod ihres Vaters jedoch niemals, für den sie das dortige politische System verantwortlich macht, mit voller Wucht. Sozusagen die exakt umgekehrte Geschichte zu den in Asien oft unzufriedenen deutschen Expats, die über die Verhältnisse in Deutschland klagen. Sie hat auf die philippinische Staatsangehörigkeit verzichtet: „Ein Land, das gegen ein paar Euro Schmiergeld einen Mann wählt, der die Polizei in Slums schickt, um die Opfer der sozialen Ungerechtigkeit unter Vorwänden ermorden zu lassen“ (sie meinte Duterte), „so ein Land ist niemals mein Land. Ein Land, das mir Ausbildung und Geborgenheit gab, ohne dass ich die Tochter dieses Landes bin, das ist das Land, das ich liebe. Es heißt Deutschland.“
Meine Frau denkt und fühlt wirklich genau so. Sie weint immer, wenn die deutsche Fußballmannschaft verliert, und besteht am Arbeitsplatz gegenüber den neuen Fachkräften im Krankenhaus darauf, die deutsche Sprache zu verwenden.
Ich berichte das alles, weil es Teil unseres Gesprächs am Frühstückstisch war und mich all diese Dinge nachdenklich stimmen. Ich erzähle das, weil mein eigener Vater kürzlich verstarb und ich gerne meinen Vater und den Vater meiner Frau zu einem guten Essen eingeladen hätte. Das geht mir gerade durch den Kopf…
Es ist keine spektakuläre, keine, die man in den Schlagzeilen der Zeitungen lesen würde. Es ist eine sehr persönliche Geschichte, die ich soeben am Küchentisch von meiner Frau erfuhr. Es ist die Geschichte der Beziehung zwischen meiner Frau und ihrem Vater, der 2013 vermutlich elendig an Darmkrebs oder einem Magengeschwür verstarb – ich konnte es aus der Diagnose nicht genau erkennen, zumal ich kein Mediziner bin.
Der Vater ging ins Krankenhaus. Der Arzt dort prognostizierte ihm, unbehandelt nur noch wenige Wochen leben zu können, behandelt eine 50-prozentige Überlebenschance zu haben und zumindest weitestgehend schmerzfrei zu werden. Der Vater hatte gewaltige Schmerzen, erbrach sich täglich in dieser Zeit und spuckte immer wieder Blut, so erzählte meine Frau. Der Vater lehnte es ab, behandelt zu werden, nachdem er erfuhr, dass die Operation vermutlich etwa 8000 Euro kosten würde – eine Summe, die er der Familie nicht als Schuldenberg hinterlassen wollte: „Ich habe lange genug gelebt“ (er war etwa 70 Jahre alt), „und habe kein Recht, euch zu belasten. Dann gehe ich halt.“
Meine Frau war damals eine sehr junge Frau von 25 Jahren. Ihr Vater hatte sie trotz seines geringen Bildungsstandes regelmäßig an politischen und gesellschaftlichen Diskussionen teilnehmen lassen, schon als Kind. Während solcher Gespräche, bei denen anfangs die ganze Familie anwesend war und am Küchentisch diskutiert wurde, stand die Mutter meistens irgendwann auf: „Ich habe noch etwas zu waschen, ihr entschuldigt mich.“ Die Schwester bemerkte: „Ich muss noch für die Schule lernen, bitte lasst euch nicht stören.“ Der Sohn verschwand mit der Erklärung, er müsse noch eine Arbeit erledigen, für die er bezahlt werde. So blieb nur meine Frau übrig – vielleicht 12 Jahre alt – und diskutierte mit ihrem Vater über die Frage, ob es gerecht sei, dass 95 Prozent der Bevölkerung keine Bildung bekämen, der Diktator Marcos das Land terrorisiere, die Minderheit, aus der meine Frau stammte, noch einmal wirtschaftlich zusätzlich benachteiligt sei (es ist der ärmste Bevölkerungsteil der Philippinen), und warum Gott all das zuließe.
Meine Frau stellte gerne immer wieder Fragen, neigte dabei den Kopf leicht zur Seite, die Augen weit geöffnet, und sog die Ansichten ihres Vaters über all diese Dinge in sich auf. Ausgiebige Vater-Tochter-Gespräche, bis sie wieder einmal ihren Vater für Jahre nach Saudi-Arabien „preisgeben“ musste, wo er sich gegen ein Handgeld versklavte und seiner kleinsten Lieblingstochter entzogen wurde. Meine Frau, damals ein kleines Mädchen, hütete die kleinen Geschenke ihres Vaters in einer kleinen Pappkiste wie einen Schatz und betrachtete sie oft: die Perlenkette aus Plastikperlen, die billige Armbanduhr, die nie getragen wurde, um sie zu schonen, das bunte Halstuch aus Riad mit muslimischen Mustern, das in der Sonne leuchtete, wenn man es ins Licht hielt.
Als meine Frau später selbst nach Saudi-Arabien ging, um sich für die Familie und deren Überleben zu versklaven, musste sie, als ihr Vater im Sterben lag, heimlich telefonieren, um ihn noch einmal zu sprechen. Ihr Anruf kam leider fünf Minuten, nachdem er in einem ärmlichen Bett verstarb – einen Moment zu spät. Tränen oder Trauer konnte sie in Saudi-Arabien nicht zeigen. Die Aufforderung zu arbeiten war dort unerbittlich, und bei Trödelei hätten Stockhiebe gedroht.
Diese Geschichte hat übrigens dann doch eine bekannte deutsche intellektuelle Zeitschrift dokumentiert, ebenso wie die Umstände, unter denen ich sie durch einen Zufall traf. Ich wurde auf sie aufmerksam, als ich während der Suche nach einer Investition im Energiebereich beruflich unterwegs war. Ich konnte sie aus dieser Situation befreien. Heute lebt meine Frau in Deutschland, hat alle Schulabschlüsse und eine Ausbildung zur Krankenschwester nachgeholt. Sie sparte wie besessen aus eigenem Geld, damit sie im Falle des Falles ihrer Mutter eine Operation bezahlen könnte und nicht auf meine Hilfe zurückgreifen müsste – obwohl sie das auch täte. Aber meine Frau ist eine sehr stolze Person, die Dinge lieber selbst erledigt, wenn es irgendwie möglich ist. Mit ihrem ersten verdienten Geld kaufte sie mir damals übrigens Schuhe. Ich werde das nie vergessen.
Ich erzähle euch diese Geschichte, weil es in Asien mehr gibt als Sonne, Strand und Meer, Partymeilen und billiges Bier. Es gibt solche interessanten kleinen Geschichten, die mich zum Nachdenken bringen. Ich denke bei solchen Geschichten darüber nach, was wohl gemeint ist, wenn man Deutschland als „gescheitert“ bezeichnet und meint, wir würden absehbar in absoluter Armut verkommen, alles sei schlecht, und Migranten seien ein riesiges Problem. Ich werte das gar nicht so gerne, denn jeder Mensch hat seine eigene Geschichte und dadurch seinen eigenen Blick. Es ist eher so, dass ich lauter Fragezeichen in meinem Kopf sehe und immer öfter nicht verstehe, was die klagenden Anwürfe bedeuten sollen, die ich immer lauter von deutschen Expats in Thailand wahrnehme.
Meine Frau ist übrigens sehr, sehr gerne in Thailand. Ihrem ursprünglichen Heimatland, den Philippinen, verzeiht sie den Tod ihres Vaters jedoch niemals, für den sie das dortige politische System verantwortlich macht, mit voller Wucht. Sozusagen die exakt umgekehrte Geschichte zu den in Asien oft unzufriedenen deutschen Expats, die über die Verhältnisse in Deutschland klagen. Sie hat auf die philippinische Staatsangehörigkeit verzichtet: „Ein Land, das gegen ein paar Euro Schmiergeld einen Mann wählt, der die Polizei in Slums schickt, um die Opfer der sozialen Ungerechtigkeit unter Vorwänden ermorden zu lassen“ (sie meinte Duterte), „so ein Land ist niemals mein Land. Ein Land, das mir Ausbildung und Geborgenheit gab, ohne dass ich die Tochter dieses Landes bin, das ist das Land, das ich liebe. Es heißt Deutschland.“
Meine Frau denkt und fühlt wirklich genau so. Sie weint immer, wenn die deutsche Fußballmannschaft verliert, und besteht am Arbeitsplatz gegenüber den neuen Fachkräften im Krankenhaus darauf, die deutsche Sprache zu verwenden.
Ich berichte das alles, weil es Teil unseres Gesprächs am Frühstückstisch war und mich all diese Dinge nachdenklich stimmen. Ich erzähle das, weil mein eigener Vater kürzlich verstarb und ich gerne meinen Vater und den Vater meiner Frau zu einem guten Essen eingeladen hätte. Das geht mir gerade durch den Kopf…